Wenn Welten kollabieren und es trotzdem weitergeht

Laura Feldmann

Laura Feldmann
Arbeitet als freie Journalistin und Redakteurin bei einem Literaturfanzine. Spezialgebiete: Feminismus, Literatur, Pop-Kultur und digitale Medien. Schreibt regelmäßig über gesellschaftspolitische Themen an der Schnittstelle von Kultur und Geschlechtergerechtigkeit. Engagiert sich als Mitglied im Verein "Rosa Lektürchen".

Das Knie der Spinne – Eine feministische Space-Opera

Ein namenloser Journalist sammelt Wörter und Geschichten auf dem Mars. Auf der verbrannten Erde träumt ein reptilioider Kioskbesitzer von grünen Feldern. Moonbar, ein ehemaliger Funker und Archivar, verliert sich in Drogenträumen. Lauras Ehemann verstrickt sich in Regimekritik. Ragnar zieht allein die junge Lia groß und hofft auf bewohnbare Welten jenseits des Ruins, während der Erzähler selbst versucht, all diese Geschichten zu einem Ganzen zu fügen. Am Ende sterben fast alle, nur wenige pflanzen Gemüse in den Ruinen. Peter Shaw hat mit diesem düsteren Szenario einen überraschend tröstlichen Roman über das Loslassen geschrieben – und ein radikal feministisches Werk, das die traditionellen Narrative der Science-Fiction unterläuft.

Die Poetik der Erschöpfung

Shaw konstruiert ein Ensemble weiblicher Figuren, die das Genre der Space-Opera neu definieren. Im Zentrum steht Elvira, erfolgreiche DJ und Geschäftsfrau im Asteroidengürtel – eine Frau auf dem Höhepunkt ihrer Macht, die die größten Partys der Galaxis orchestriert und ganze Asteroiden besitzt. Doch Shaw vermeidet die Girlboss-Fantasy und zeigt stattdessen das Danach: die absolute Leere nach dem Erreichen aller Ziele. Elvira verkörpert die Erschöpfung einer Generation, die alles erreicht hat – Karriere, Unabhängigkeit, Erfolg – und nun feststellt, dass es nicht genügt. "Sie war nicht wütend auf das Universum – sie war wütend darüber, dass sie überhaupt nichts mehr fühlte", schreibt Shaw.

Die Emotionen, die sie nach außen projizierte, waren wie die letzten Funken eines Sterns kurz vor seinem Kollaps: hell, aber hohl, ohne die nukleare Substanz, die sie hätte nähren sollen.

Diese emotionale Taubheit wird zum zentralen Motiv des Romans. Shaw dekonstruiert die Erfolgsnarrative, mit denen Frauen seit Jahrzehnten konfrontiert werden. Elvira stirbt nicht am Scheitern, sondern am Erfolg selbst – eine radikale Umkehrung traditioneller Erzählmuster. Ihre kalkulierte Entscheidung, durch die Luftschleuse in den Void zu treten, wird zu einem Akt ultimativer Selbstbestimmung. Shaw beschreibt diesen Moment mit wissenschaftlicher Präzision. Selbst im Tod behält sie ihre Würde – ein mächtiges Statement über weibliche Autonomie.

Wissenschaft als Waffe, Schweigen als Widerstand

Diese intensive Begegnung zwang mich, Laura nicht mehr als das stumme Hindernis zu sehen, das ich loswerden wollte. Menschen, die aus ihrem eigenen Versteck hervorgetreten waren, um zu zeigen, was Jahre des Wartens und Leidens aus ihnen gemacht hatten, wirkten vertrauenswürdig naiv.

Laura repräsentiert eine andere Form weiblicher Erfahrung: die brillante Wissenschaftlerin, deren bahnbrechende Entdeckung vom Mars-Regime zur Massenvernichtungswaffe pervertiert wurde. In medikamentösen Nebel gehüllt, ihre Träume von reiner Forschung in die Dunkelheit ihrer Psyche verbannt, wird sie zur stummen Zeugin ihrer eigenen Tragödie. Doch ihr Schweigen ist keine Kapitulation – es ist Widerstand. Die kleine Spinne mit dem geknickten Knie, die sie bei sich trägt, wird zum Symbol einer gebrochenen Hoffnung.

Shaw zeichnet hier das Porträt einer Frau, deren intellektuelle Leistung missbraucht wurde – ein Echo der vielen Wissenschaftlerinnen der Geschichte, deren Entdeckungen gestohlen wurden. Doch Shaw bricht mit dem klassischen Narrativ: Laura wird nicht von männlichen Kollegen verraten, sondern von ihrer besten Freundin und einstigen Geliebten. Dieser weibliche Verrat wiegt umso schwerer. Lauras Verstummen wird zur machtvollen Geste: Wo Worte versagen, spricht die Verweigerung.

Diese symbiotische Verschränkung zweier Bewusstseine folgte keiner linearen Dramaturgie. Was als fleischliche Ekstase in den staubigen Ruinen irdischer Hoffnung begonnen hatte, transformierte sich über die Äonen zu einer sublimen Resonanz, einem stillen Dialog zwischen zwei Seelen, die gelernt hatten, ihre Traumata in gemeinsamen Koffern zu verstauen und abwechselnd zu tragen.

Das Buch entwickelt im weiteren Verlauf eine Poetik der erdrückenden Schweigsamkeit, die den Verrat nicht durch laute Konfrontation, sondern durch die Abwesenheit von Kommunikation aufzeigt. Shaw demonstriert gekonnt, wie die Stille zwischen den Figuren zu einem eigenen Akteur wird – sie füllt die Kabinen der Schauplätze wie eine toxische Atmosphäre. Schweigen wird als eine aktive Form der Gewalt gelebt. Es ist der Verrat, der sich nicht rechtfertigt, der keine Erklärung anbietet. Diese Stummheit wird zur grausamsten Form der Distanzierung: Die Würde einer Auseinandersetzung wird aktiv verweigert. In Shaws Universum ist das Schweigen eine Substanz – schwer, erdrückend und zerstörerisch.

Das Spektrum weiblicher Kompromisse

Die Beziehungskonstellationen im Roman kartografieren verschiedene Überlebensstrategien in einer kollabierenden Gesellschaft. Vanessa hat sich dem Mars-Regime angeschlossen. Shaw beschreibt ihre Verbindung zu Laura als symbiotische Verschränkung zweier Bewusstseine, die nun durch ideologische Gräben zerrissen wurden. Vanessa wählte die Macht, wo Laura das Schweigen wählte. Beide Entscheidungen sind nachvollziehbar, keine wird moralisch verurteilt.

Lia, die rätselhafte junge Frau in Ragnars Umfeld, trägt die Bürde der nächsten Generation. Als sie Vanessa niederschlägt, inszeniert Shaw eine symbolische Abrechnung mit den Kompromissen der Müttergeneration. Der völlige Verzicht auf jede Wirkung bis hin zur Marginalisierung im Epilog ist subversive Textkunst.

Auf dem gesamten Planeten existierte keine jugendliche Seele außer ihr. Ein demografisches Vakuum, das die Zukunft zu verschlingen drohte. Es war das schwarze Loch in unserer Zuversicht. Die Spezies bewegte sich auf einem asymptotischen Pfad zur Auslöschung, und Lia verkörperte einen biologischen Anachronismus in diesem degenerativen Prozess.

Ach, und dann ist da noch Nova, die Geschichtenerzählerin. Sie versucht verzweifelt, in einer sinnentleerten Welt noch Narrative zu finden – eine Metapher für die Kraft und Grenzen des Erzählens selbst.

Die Wechseljahre als existenzielle Metapher

Shaw nutzt die körperlichen und seelischen Umbrüche der Lebensmitte als Metapher für größere Übergänge: vom Glauben an Fortschritt zur Akzeptanz des Verfalls, von der Hoffnung auf Veränderung zur Erschöpfung durch das Immergleiche. Diese Perspektive ist in der Science-Fiction revolutionär – ein Genre, das traditionell von Jugendlichkeitsfantasien dominiert wird. Shaws Protagonistinnen sind keine Actionheldinnen, sondern Frauen in verschiedenen Stadien existenzieller Übergänge. Der Verlust alter Gewissheiten wird zum Verlust der Schaffenskraft, die hormonelle wie ideologische Umstellung zur fundamentalen Krise.

Was Shaw hier leistet, geht über biologistische Deutungen hinaus: Er erkennt die Lebensmitte als den Moment, in dem die Versprechen der Jugend auf die Realität der Gegenwart treffen. Für seine weiblichen Figuren bedeutet das die schmerzhafte Erkenntnis, dass weder beruflicher Erfolg noch wissenschaftlicher Fortschritt die erhofften Utopien gebracht haben.

„Hier, sie gehören dir”, sagte sie, ihre Stimme kaum hörbar über die Musik hinweg. Sie machte sich nicht die Mühe, sich von den anderen in der Kanzel zu verabschieden, warf nicht einmal einen Blick zurück, als sie von der Bühne ging. Die Nacht war für sie vorbei, und sie hatte nicht vor, länger zu bleiben.

Zärtlichkeit im Angesicht der Apokalypse

Die besondere Qualität von Shaws Feminismus liegt in seiner Verweigerung eindimensionaler Charakterzeichnungen. Elvira ist eine komplexe Persönlichkeit am Ende ihrer emotionalen Ressourcen. Laura ist nicht die wahnsinnige Wissenschaftlerin, sondern das Opfer eines Systems, das Brillanz ausbeutet. Vanessa ist nicht die kalte Verräterin, sondern eine Frau, die zwischen Liebe und Überleben wählen musste.

Die Beziehung zwischen Elvira und Moonbar bildet das emotionale Zentrum des Romans. Sie lieben sich, können einander aber nicht retten – eine erwachsene Erkenntnis über die Grenzen der Liebe. Selbst Scully, Moonbars Corgi, wird zur tragischen Figur in einer treulosen Welt.

Science-Fiction als feministische Intervention

Jeder Samen war ein Trotzschrei gegen das Ende, jede neue Sprosse ein Mittelfinger in Richtung Entropie

Shaw interveniert in ein Genre, das oft von männlichen Machtfantasien geprägt ist. Seine Space-Opera handelt nicht von der Eroberung neuer Welten, sondern vom Umgang mit Verlust. Die traditionellen Narrative von Expansion und Triumph werden durch Geschichten der Kontraktion und des würdevollen Rückzugs ersetzt.

"Jeder Samen war ein Trotzschrei gegen das Ende, jede neue Sprosse ein Mittelfinger in Richtung Entropie", heißt es, als die Überlebenden in den Ruinen von Kiew Gemüse pflanzen. Doch dieser Neuanfang ist bescheiden, fast schon anti-heroisch. Shaw zeigt: Auch das Aufhören kann revolutionär sein.


Fazit


Was "Das Knie der Spinne" zu einem bedeutenden feministischen Text macht, ist nicht die Darstellung starker Frauen im konventionellen Sinn, sondern die Anerkennung weiblicher Erschöpfung als legitime Antwort auf gesellschaftliche Zumutungen. In einer Kultur, die von Frauen permanente Optimierung verlangt, zeigt Shaw Figuren, die sich dieser Forderung verweigern.

Der Roman erscheint zu einem Zeitpunkt, an dem die feministische Bewegung selbst Ermüdungserscheinungen zeigt. Nach #MeToo und zahllosen Debatten über Gleichberechtigung rasen wir auf eine Erschöpfung zu, die das Buch mit Bravour einfängt.

Peter Shaw hat einen Roman geschrieben, der die Konventionen der Science-Fiction sprengt und dabei zutiefst feministisch ist – nicht trotz, sondern wegen seiner Weigerung, einfache Ermächtigungsnarrative zu bedienen. Das Knie der Spinne ist Literatur für eine Zeit, in der die großen Utopien gescheitert sind und die kleinen Gesten des Widerstands an Bedeutung gewinnen.


Leseempfehlung: Ein Muss für alle, die Science-Fiction jenseits von Heldenepen suchen.

Triggerwarnung: Der Roman enthält explizite Darstellungen von Suizid und kann für Menschen mit entsprechender Vorbelastung besonders schwer zu ertragen sein.

Anatomie einer kosmischen Katastrophe

Das Knie der Spinne - ein Spiegel menschlicher Ängste und Sehnsüchte

Interessiert?

Informiere mich, wenn das Buch verfügbar ist.